„Wenn ein Reisender in einer Winternacht – was ist das für ein Titel? Der ist ja unvollständig.“
Manchmal muss man auf das Offensichtliche hingewiesen werden, um das Große und Ganze zu verstehen. Und plötzlich formten sich Inhalt und Titel des Buches zu einer perfekten Einheit.

Um was geht es? Es geht um dich, Leser. Der, der du liest und das Lesen noch als etwas reines wahrnehmen kannst. Du freust dich auf den neuen Roman von Italo Calvino und suchst am Erscheinungstag eine Buchhandlung auf. Stolz und freudig erregt trägst du deinen neuen Schatz nach Hause, doch bemerkst du nach einigen Seiten, dass sich die Worte und Absätze wiederholen. Das kann doch nicht sein! Dem Verlag muss ein Fehler unterlaufen sein!

Schon bist du wieder in der Buchhandlung , willst reklamieren und deinem Frust freien Lauf lassen. Es wird sich entschuldigt und dir ein neues Exemplar in die Hand gedrückt. Aber es ist nicht die Geschichte, die du begonnen hast. Diese hier ist völlig neu, doch vielleicht – so denkst du – noch packender als die andere Geschichte und schon bist du gefangen im Bann. Doch dann sind da nur leere Seiten,die dich verhöhnen wollen. Und so kommen dir auf der Suche nach dem echten Buch und dem Ende der Geschichten so allerhand Bücher unter, die alle an der spannendsten Stelle und schon nach wenigen Seiten enden.

Du begegnest im Lauf deiner Suche einer Leserin, die dir fortan nicht mehr aus dem Kopf geht, so eigensinnig ist sie und doch so schön ihre Art zu lesen. Die Suche wird zu einem Abenteuer und immer wieder begegnen dir Romananfänge, die unterschiedlicher nicht sein können. Da wirst du verwickelt in eine Intrige, in ein Geheimnis. Und dabei wolltest du nur das neue Buch von Italo Calvino lesen.

Genau dieser Mann ist es, der uns diese Geschichte konzipiert. Der, um den Sog für den reellen Leser stärker oder persönlicher zu machen, nicht die bewährte erste Person oder die dritte Person wählt, sondern die Protagonisten im Buch direkt mit dem Personalpronomen „Du“ anspricht und uns so das Gefühl vermittelt, direkt mit uns zu sprechen. So verfolgen wir den Helden nicht aus einer Distanz, die wir normalerweise kennen und uns in ihr wohlfühlen, sondern wir könnten dieser Held sein.
Die Romananfänge, die der Leser liest, lesen auch wir zeitgleich mit.
Calvino beginnt eine Geschichte zu erzählen. Aber er beendet sie nie. So steigt auch in uns die Frustration über die Unvollständigkeit und wir hoffen mit dem Leser mit, er möge endlich seinen Frieden finden.

Diese Geschichten, so unterschiedlich sie auch manchmal sein mögen, sind sich auch immer ähnlich. Sei es durch die Wortwahl der handelnden Personen, die wiederkehrenden Namen und Orte oder auch Motive oder die Art, wie Calvino die Geschichten aufbaut. Man erkennt den Autor und seinen Stil. Er kann sich nicht verstecken.
Wenn der fiktive Leser also nicht liest, ist er auf der Suche nach der Vollständigkeit. Dabei wird die ganze Erzählung zum Ende hin immer verworrener. Menschen werden vorgestellt und miteinander verknüpft oder auch nicht. Wahrheit und Lüge, Original und Fälschung sind kaum zu unterscheiden. Es fordert die gesamte Konzentration des reellen Lesers, dem Verlauf zu folgen, zwischen der erzählten Realität und der Fiktion zu unterscheiden.

Und doch bleibt da dieser Gedanke. Das dieses Buch eine wunderschöne Hommage an das Lesen ist: So viele Wahrheiten über das Verhalten von Lesern, Theorien über das Lesen und Wiederlesen. Gespräche, die sich um dieses Thema ranken. Die Liebe zum Lesen ist in diesem Roman allgegenwärtig und absolut greifbar. Jeder findet seine Eigenheiten in diesem Buch, kann sich seine eigene Theorie herauspicken und ist glücklich darüber, dass genau seine Art des Lesen hier Erwähnung gefunden hat.

 


4.5/5