Mein Name ist Jacob Portman. Als ich noch ein Kind war, erzählte mir mein Großvater Abe abenteuerliche Geschichten. Geschichten über furchterregende Monster, die im 2. Weltkrieg – als er selbst noch ein Kind war – seine Familie töteten und ihn zwangen zu fliehen. Von einem Waisenhaus auf einer Insel, wo Kinder mit besonderen Fähigkeiten vor den Monstern von einem Vogel beschützt wurden. Ich hörte ihm immer gerne zu, glaubte jedoch mit zunehmenden Alter immer weniger an diese Phantastereien. Als ich ein Teenager war, starb mein Großvater. Ich fand ihn aufgeschlitzt auf seinem Anwesen und war dabei als er starb. Er erzählte mir kurz vor seinem Tod, dass ich zum Vogel müsste und andere kryptische Dinge. Doch noch viel furchterregender an diesem Abend war das Monster mit den Tentakeln, die sich aus seinem Maul schlängelten, das ich sah – oder glaubte zu sehen. Alle sagen, ich wäre verrückt, und vielleicht bin ich das auch. Doch dank meines Psychiaters und eines Briefes, den ich im Haus meines Großvaters fand, hat sich in mir der Entschluss geformt, diese Insel, diesen Vogel und diese Kinder aus den Erzählungen meiner Kindheit aufzusuchen um zu erfahren, was damals wirklich geschah…
Wenn man beginnt, den Prolog zu lesen, fühlt man sich als erstes an ein düsteres BIG FISH erinnert. Denn auch hier haben wir die phantastischen Geschichten eines Mannes, denen als Kind geglaubt und mit zunehmenden Alter die Glaubwürdigkeit immer stärker abgesprochen wird. Oder es erinnert an PAN’S LABYRINTH. Das Fliehen in eine Märchenwelt um den Grauen des Krieges zu entgehen. Doch was ist nun die Wahrheit? Jakob, der nur einen Freund hat und mit seinen vernachlässigenden Eltern gerade so klar kommt, will dahinter kommen. Zusammen mit seinem Vater schlagen sie deshalb auf der walisischen (und fiktiven) Insel Cairnholm auf, wo sich das alte Waisenhaus befinden soll. Die Atmosphäre ist so, wie man sich solch eine Insel vorstellt: Viel Nebel, Regen, betrunkene Fischer, viele Schafe, viel Moor. Riggs beschreibt sehr bildlich die Umgebung, so dass der Leser richtig in die Geschichte versinken kann. Das Buch lässt sich Zeit, die Handlung zu verdichten, wird dabei aber niemals langweilig oder fade. Der Leser hat Zeit, Atmosphäre und Charaktere aufzunehmen. Es wird sich mit den Beziehungen zueinander auseinandergesetzt, wodurch die handelnden Figuren glaubwürdig rüberkommen und nicht eindimensional wirken.
Der Fantasyanteil ist anfangs kaum vorhanden, steigt aber ab einem bestimmten Punkt sprunghaft an, wirkt aber nicht deplatziert oder gezwungen. Es ist wie bei einem typischen Gaiman-Buch: Die Grenze zum Surrealen ist nicht komplett verschwommen, greift aber ineinander über. Wie die Mauer in Wall (STERNWANDERER) oder die kleine Tür im Haus (CORALINE). Doch hier ist es kein Eintritt in ein anderes Reich sondern eher ein Schutzraum, der in unserer Welt liegt.
Wovor er schützt, dass erfährt der Leser sehr genau. Das Buch lässt keine aufkommende Frage unbeantwortet, was sehr angenehm ist. Trotzdem ist das Ende offen, um auf die Fortsetzung DIE STADT DER BESONDEREN KINDER überzuleiten. Ebenfalls existent ist eine Liebesgeschichte, die jedoch nicht zum reinen Selbstzweck vorhanden ist und mit der sich auseinandergesetzt wird.
Doch das Interessanteste am Buch sind nicht die Geschichte oder die Charaktere. Es sind die Bilder. Jakob findet immer wieder Photographien. Entweder hat sie ihm sein Großvater gezeigt oder sie waren versteckt. Diese Photos sind immer nahe der entsprechenden Stelle im Text auf einer Seite abgedruckt. Es handelt sich jedoch nicht um extra für das Buch angefertigte Bilder, sondern um authentische, für das Buch leicht retuschierte, Werke, die Ransom Riggs aus verschiedenen Sammlungen bezogen hat. Alle Bilder sind dabei schwarz-weiß und muten meist seltsam an. Sie geben dem Buch das gewisse Etwas, eine Art Gruselfaktor und vor dem inneren Auge des Lesers spielt sich automatisch eine alte Stummfilmaufnahme ab. Außerdem bekommt man so ein bessere Ahnung davon, wie die Charaktere aussehen. Auch einzelne, diesmal für das Buch entworfene, Dokumente finden sich immer wieder. Ein Brief vom Großvater beispielsweise, was sehr zur Immersion beiträgt.
Die Insel der besonderen Kinder begeistert von vorne bis hinten, von der Aufmachung mit den Bildern, über die Charaktere bis hin zur Geschichte ist alles stimmig. Genau wie Jakob möchte der Leser erfahren, was sein Großvater erlebt hat, ob alles stimmt oder ob es nur die Phantastereien eines alten Mannes sind, um das Trauma des Krieges zu verarbeiten. Dieses Buch ist vor allem für Fans von Neil Gaiman, Lemony Snicket, Tim Burton-Filmen und anderen Werken, in denen es gilt, ein Mysterium in einer Welt zwischen Realem und Fantasy auf den Grund zu gehen.
Gastrezension von Max