Wirtschaftskrise, Sozialexperiment

In einer nahen Zukunft ist das Wirtschaftssystem in Amerika kollabiert. Die meisten Menschen leben in neu entstandenen Slums und kämpfen mit allen Mitteln um ihr überleben. Darunter befinden sich auch Stan und Charmaine. Sie sind verheiratet und zusammen versuchen sie, alle Widrigkeiten zu überstehen. Eines Tages erfährt Charmaine von einem Projekt, bei dem ausgewählte Personen in einem geschlossenem System ein normales Leben führen können. Sie und Stan schreiben sich dafür ein und nach kurzer Zeit befinden sie sich im Positron Project. Positron ist dabei der Name dieser künstlichen Stadt. Jeder bekommt einen Job und ein Zuhause, dass sie sich mit Tauschbewohnern teilen. Denn jeden zweiten Monat begeben sich  die Bewohner in Positron in die Schwester-„Stadt“ Conscilience, einem Gefängnis, wo man sich als Insasse wiederfindet und den Aufenthalt dort simuliert. Der Kontakt zwischen den Tauschpartnern ist strikt untersagt. Eines Tages begegnet Charmaine jedoch Tauschbewohner Max und beginnt eine Affäre mit ihm, die nicht nur ihre Ehe gefährdet, denn im Positron Project ist nicht alles so idyllisch, wie es zunächst den Anschein hat.

Klare Worte, rasche Handlung

Kenner von Dystopien wissen: Nichts ist umsonst. Man ahnt schon recht früh, dass Positron nicht die heile Welt ist, als die sie verkauft wird. Auch Margaret Atwood scheint sich dessen bewusst zu sein und kommt relativ zügig zum Punkt. Auch wenn sie sich Zeit nimmt, die Charaktere vorzustellen, schreitet die Handlung stellenweise in nur wenigen Sätzen einige Monate voran. Die wörtliche Rede wird nur selten genutzt, oftmals sind Passivsätze das Gebot der Stunde. Das ist zu Anfang nichts Schlechtes, denn durch das schnelle Tempo hat das Buch kaum Stellen, die nicht handlungsrelevant sind. Schade ist nur, dass die Handlung selbst nicht sehr relevant ist. Der Fokus liegt auf Charmaine und Stan, die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht und Gefühlslage der beiden Personen erzählt.

Die Libido zuerst, das Gewissen zuletzt

Bei der Gefühlslage wird einer der großen Schwächen der Geschichte offensichtlich: Beide Protagonisten benehmen sich wie pubertierende Teenager. Die Autorin nimmt sich viel zu viel und viel zu oft Zeit dafür zu unterstreichen, wie sehr Charmaine Max begehrt und wie sehr Stan darüber fantasiert, was für ein Sexbiest sich hinter der Tauschpartnerin verbirgt. Leser mit einer Aversion gegenüber Untreue werden sich pausenlos über die Protagonisten aufregen. Kein Kapitel, fast nicht mal ein Absatz kann ohne derartige Beschreibungen leben. Man fühlt sich wie der Leser eines Tankstellen-Liebesromans. Die Haupthandlung wird dabei zwangsweise in den Hintergrund gedrängt. Sie wird später auch so abstrus und gehetzt, dass der Leser sich am Ende fragt, was zur Hölle dort eigentlich passiert ist, und warum. Abstrus bedeutet an dieser Stelle auch nicht originell oder überraschend und denn den Protagonisten gelingt alles reibungslos. Spannung wird dadurch keine aufgebaut und der eigentlich spannende Ansatz verkommt dabei zur Luftnummer.

Ein Buch zum Vergessen

Trotz starker Prämisse schafft es die Autorin, die Handlung so konfus, die Charaktere so unliebsam zu gestalten, dass man beim Lesen selten Freude verspürt. Nur die gut gesetzte Gesellschaftskritik und gelungene Sprache retten das Buch davor, eine Vollkatastrophe zu sein. Dabei kann Margaret Atwood es so viel besser, wie sie mit der MadAddam-Trilogie bewiesen hat. Das Buch ist kaum die 12 Euro für das Taschenbuch und erst recht nicht die 22 Euro für die Hardcover-Ausgabe wert.


2/5