Erster Teil – Die Partei

Wir schreiben das Jahr 1984. Zumindest glaubt unser Protagonist, Winston Smith, dass es das Jahr 1984 ist. So sicher kann man sich da nicht sein. Denn die Partei überwacht alles, selbst die Vergangenheit ändern sie. Und wie soll man da wissen, was irgendwann wirklich einmal passiert ist und wie viele Jahre seitdem vergangen sind.

Und doch ist es Winstons Job, die Vergangenheit zu ändern. Tag für Tag sitzt er an seinem Platz im Ministerium für Wahrheit und schreibt die Geschichte neu. Die Partei muss immer Recht behalten und das darf nicht nur heute der Fall sein, sondern die Partei hatte zu jeder Zeit Recht. Es werden Zeitungsartikel neu geschrieben. Aber eine wirkliche Lüge ist es nicht, denn dank Doppeldenk ist es möglich, den Konflikt zwischen Wissen um Realität und „neuer Realität“ zu verdrängen. Winston selbst ist äußerlich nur eine Fassade, ein orthodoxes Mitglied der äußeren Partei. Doch innerlich rebelliert er gegen das System. So wird der Alltag oft zum Spießrutenlauf.

Denn der große Bruder, der über allem steht, darf nicht wissen, was der Genosse Smith wirklich denkt. Winston muss es verbergen, doch überall gibt es Apparate, die ihn abhören und ihn an jedem erdenklichen Ort sehen können. So kommt es einem Verrat gleich, als er ein Buch mit leeren Seiten ersteht, es nach Hause schmuggelt und in einer nicht überwachten Ecke beginnt, Tagebuch zu schreiben.

So entsteht ein Bild des Alltags in dieser neuen Welt. Wir als Leser verstehen zunächst noch nicht, wie das System genau funktioniert, warum es existiert und wie es überhaupt entstehen konnte.
Winston ist ein Bewohner von Ozeanien, eines von drei Supermächten, die die Welt beherrschen. Zwar bekämpfen sich diese Mächte, doch alle regieren sie mit eiserner Hand über ihr Volk. Wie so oft ist die Gesellschaft in drei Kategorien eingeteilt: Da gibt es die Mitglieder der inneren Partei, die die höchsten Ränge und vergleichsweise viele Vergünstigungen besitzen. Die Mitglieder der äußeren Partei, der auch Winston angehört, haben ein geregeltes und strengstens reglementiertes Leben. Und dann gibt es da noch die Proles, das gemeine Volk, das nicht ganz so streng überwacht wird, dafür aber im Elend leben muss.

„Freiheit bedeutet die Freiheit, zu sagen, dass zwei und zwei vier ist. Gilt dies, ergibt sich das Übrige von selbst.“

Allein mit diesem Satz beschreibt Orwell was das System ist, was es macht und wie gefährlich es sein kann.
Denn Freiheit gibt es in Ozeanien nicht. Sagt die Partei, dass zwei und zwei vier ist, dann ist das so. Sagt sie morgen, dass zwei und zwei fünf ist, ist das so. Sie hat es nie anders gesagt, alles andere wäre ein Gedankenverbrechen und wird mit dem Tod bestraft. Denn Freiheit – das ist die Sklaverei. Wenn der Herr etwas sagt, dann ist das zu befolgen und nicht in Frage zu stellen. Es darf nicht einmal mehr ein gegenteiliger Gedanke herrschen, denn selbst das ist Verbrechen. Die neue Wahrheit ist zugleich als alte Wahrheit anzuerkennen.

Das besagen auch die drei Regeln des großen Bruders:

KRIEG IST FRIEDEN.
FREIHEIT IST SKLAVEREI
UNWISSENHEIT IST STÄRKE.

Die tiefer gehende Bedeutung dieser Sätze wird später im Buch ausreichend erklärt und dargestellt. Nun wird dem modernen Leser klar, dass sich Dave Eggers in seinem Buch „Der Circle“ dieses Systems Orwells schamlos bediente. Sein eigenes System, gestützt auf Technologie und Social Media skandiert in diesem Zusammenhang zwar andere Sätze, jedoch sind diese stark an die Skandierfähigkeit, Kürze und Aussagekraft dieser Parolen angelehnt.

Im ersten Teil wird dem Leser das Leben in diesem totalitären Überwachungsstaat vor Augen geführt und ein Protagonist geschaffen, der sich innerlich nicht mit den Lehren seiner Partei anfreunden kann und deshalb der großen Gefahr der Entdeckung unterliegt.

Zweiter Teil – Liebe und Schmerz

Da gibt es ein Mädchen. Winston hasst dieses Mädchen, denn sie steht für alles, was die Partei ist. Sie opfert ihr Leben für die Partei, ist immer da, wenn man sie braucht und skandiert am lautesten die Parolen. Julia ist ihr Name. Doch als sie ihm in aller Heimlichkeit einen Zettel zusteckt, entsteht darauf eine heimliche aber leidenschaftliche Liebesbeziehung.

Auch Julia hasst das System. In den Gebieten der Proles hat Winston ein kleines Zimmer gemietet, in dem sie ihre vertrauten Stunden verbringen können. Das stellt eine große Gefahr dar, denn sie dürfen sich nicht lange sehen. Liebe? So etwas existiert für die Partei nicht. Julia selbst gehört der Anti-Sex-Liga an, einer Jugendvereinigung, die sich der Reinheit verschrieben hat. Sex ist nicht für Lust bestimmt, sondern dient lediglich der Fortpflanzung. Winston hat das Gefühl, endlich einen anderen Menschen gefunden zu haben, mit dem er reden kann. Als dann auch noch ein Mitglied der inneren Partei von einer Bruderschaft berichtet, die das System stürzen will, ist er auf dem Höhepunkt seiner Existenz.

„Sie konnten bis ins Detail alles offen legen, was man je gesagt, getan oder gedacht hatte; doch das Innerste eines Menschen, dessen Regungen sogar für einen selbst geheimnisvoll waren, blieb uneinnehmbar.“

Julia selbst wird als eine Frau beschrieben, deren Charakter zunächst den Anschein hat, die Gedanken unseres Protagonisten zu teilen und auch seinen Elan hinsichtlich einer Veränderung. Doch schnell wird klar, dass sie lediglich eine Frauenfigur verkörpert, die durchaus das System an sich hasst, aber keinen eigenen Antrieb besitzt, etwas zu ändern. Was sie will ist körperliche Nähe und Geborgenheit. Damit gibt sie sich zufrieden. Diskussionen rund um die Partei erstickt sie im Keim oder tritt ihnen mit so offensichtlichem Desinteresse entgegen, dass Winston sich oft vor den Kopf gestoßen fühlt.

So nimmt sie eine immer wiederkehrende typische Frauenrolle in einem Roman ein. Die männlichen Charaktere agieren hier alle für sich, haben eine eigene Persönlichkeit und versuchen, das durchzusetzen, für das sie stehen. Sie sind stark. Die Frauen, die in diesem Roman auftauchen, sind entweder Mutter oder Liebchen. Nicht einmal in ihren Äußerungen kann man sie als Leser als ernsten und tiefergehenden Charakter wahrnehmen, der auch etwas zu diesem Buch und der großen Thematik beiträgt. So bleibt die Figur der Julia eindimensional und nervig.

Dritter Teil – Der große Bruder

Winston muss am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, ein politischer Verbrecher zu sein. Der große Bruder bekommt dich immer, egal wie clever du zu sein scheinst.
Die Qualen, die der Protagonist erleiden muss, appellieren an das dem Leser eigene Gerechtigkeitsgefühl. Um seine Ziele zu erreichen arbeitet der Staat mit Folter, sowohl psychischer als auch physischer.

Die Beschreibungen der Folterung erinnern auch an den später erschienenen Roman Uhrwerk Orange von Anthony Burgess. Auch dort wird der Protagonist mithilfe von Konditionierung dazu gebracht, sein eigenes Wesen zu verraten.
Auch hier erfolgt eine Art Gehirnwäsche, die in Zimmer 101 ihren Höhepunkt findet.

“ Von jetzt an musste er nicht nur richtig denken, er musste auch richtig fühlen, richtig träumen. Und die ganze Zeit musste er seinen Hass in sich einkapseln, wie ein Stück Materie, das zu ihm gehörte und doch mit seinem übrigen Ich nicht verbunden, eine Art Zyste war.“

In den Gesprächen mit seinem Folterer wird immer deutlicher, wie ausweglos Winstons Situation ist. So sehr er sich auch wünscht, seine Gedanken behalten zu können, desto schlimmer werden die Methoden, mit denen sie ihn zwingen, richtig zu denken. Doch was ist richtig? Was ist falsch? Schlussendlich wird uns auch die Frage aus dem ersten Teil beantwortet: Das Warum.

Insgesamt schildert Orwell hier ein System, das an vielen Stellen an verschiedene reale Systeme erinnert. Natürlich finden wir zum einen den Nationalsozialismus vor (der ideale Typus Mensch wird propagiert, ist in Wirklichkeit aber nicht erreichbar), aber auch die Nachkriegszeit (Armut, Zerstörung) und auch Inhalte aus der Deutschen Demokratischen Republik (Rationierung von Waren, Enteignung alles Privateigentums). Hier ist es gebündelt in ein totalitäres System, dass sich nicht nur begnügt Regeln aufzustellen und Verbrechen hart zu bestrafen, sondern eine völlige Überwachung ihrer Bewohner organisiert. Niemand ist sicher. Nicht einmal die Gedanken sind frei.

Das System ist erschreckend – ein warnender Zeigefinger.
Die Partei tut alles, um für immer an der Macht zu bleiben. Es darf keine eigenen Gedanken mehr geben. Die Sprache wird eingedämpft (Neusprech), Lügen als Wahrheiten ausgegeben und der Hass gestärkt. Ein grausames Bild, dass der Autor zeichnet und aus dem es keine Entrinnen zu geben scheint.

Ein großartiger Roman.

 


4/5