Über Bücher zu schreiben, die einen bewegt haben, ist schwierig.
Ich habe dabei oftmals das Gefühl, nicht die richtigen Worte zu finden, zu viel oder zu wenig zu sagen. Nicht das ausdrücken zu können, was ich wirklich denke. Was das Buch mit mir gemacht hat. All diese Gedanken in meinem Kopf, die versuchen, ein Text zu werden. Die geordnet und auf den Bildschirm gebracht werden wollen.
UNORTHODOX von Deborah Feldman ist so ein Buch. Nicht nur, dass die Autorin und ich Namensvettern sind: Ich kann auf eine bestimmte Art und Weise ihre Gedanken und ihren Wunsch nach Freiheit nachempfinden. Ich will und kann mein Leben nicht mit der einer streng orthodox erzogenen Jüdin vergleichen, die in einer Gemeinschaft ebenso strenger Chassidisten aufwuchs, der aber schon immer das Zugehörigkeitsgefühl in Gänze fehlte. Ihre Mutter verließ die Gemeinde, die Gründe werden dem jungen Mädchen nicht genannt, und ihr Vater ist ein behindertet Mann, der sie nicht aufziehen kann. Sie verbringt ihre Kindheit und den ersten Teil ihrer Jugend bei ihren Großeltern.
Sie muss sich an alle Regeln halten, scheinen sie ihr auch noch so gehaltlos oder erniedrigend. Schon früh macht sie sich Gedanken über die Rolle der Frau in einer Gesellschaft und diese Gedanken werden noch mehr verstärkt, als sie dann jung einen Mann heiraten muss, der von ihrer Familie ausgesucht und als geeignet empfunden wurde. Die Ehe ist alles andere als glücklich, doch wie so oft im Glauben und der Religion ist es die Frau, die die Schuld zu tragen hat. Frauen, die man jüdisch erzieht, dessen Muttersprache in einer amerikanischen Stadt dennoch jiddisch ist und die nur wenig allgemeine Bildung erhalten. Die wenigstens Mädchen aus Deborahs Klasse können wirklich richtig lesen. Sie wissen nichts von der Welt. Nichts von ihrem eigenen Körper.
Ihr Körper ist ein Tempel der Keuschheit. Niemand spricht über die weiblichen Veränderungen während der Pubertät, noch werden weibliche Bedürfnisse thematisiert. Selbst als das Mädchen ihre Tage bekommt, wird ihr nur das notwendigste erklärt: Der hygienische Umgang damit. So lernt sie erst in den Wochen vor ihrer Hochzeit bei speziellen Kursen, dass sich außer ihrer Harnröhre noch mehr „da unten“ befindet. So versteht man den Zorn der jungen Frau, als sie sieht, wie nur sie für die Unfähigkeit ihres Mannes und ihrer eigene Unaufgeklärtheit verantwortlich gemacht wird.
Deborahs Flucht sind von Beginn an die Bücher. Sie sind etwas Verbotenes. Sie muss sie heimlich lesen, wenn niemand hinschaut und muss sie verstecken, wenn doch jemand im Haus sein sollte. Aber die Bücher und ihre Geschichten geben dem Mädchen Hoffnung, sind ihre einzige Freude und tragen ein ganzes Stück bei, ihre Schritte ins Selbstbewusstsein zu werden und ihr Leben erträglicher zu machen. Wie ein roter Faden spinnt sich die Liebe zu Bücher, sowohl zu Lyrik als auch zur Epik, durch ihr Leben.
Das Buch bewegte mich auch deshalb, weil soviel von meinem eigenen Schicksal in den Erzählungen Feldmans steckt. Ich bin keine Jüdin, wurde niemals jemals wirklich streng gläubig erzogen und war freier in meinem Tun und meinen Gedanken als es Deborah zu bestimmten Zeitpunkten war. Trotzdem greift eine christliche Erziehung, insbesondere wenn sie die eigene Kindheit und Jugend so sehr prägt, tief in die Gedankenwelt ein. Werte werden verinnerlicht und ganz unbewusst sind bestimmte Regeln und Erwartungen über die Jahre eingebrannt worden.
Sex ist etwas Verwerfliches und nur dann wirklich rein, wenn es mit dem Mann geschieht, den man zuvor geheiratet hat. Selbstbefriedigung ist eine Sünde. Gott sieht alles, auch deine schlechten Gedanken. Tu Buße, denn anders kann Gott dir nicht vergeben. Gott allein kennt den Weg.
Geprägt durch die Dogmen und ständigen Wiederholungen im Gottesdienst ist dies nur ein Bruchteil dessen, was die Autorin in ihrer jüdischen Gemeinde so extrem erleben musste. Und doch fühle ich mich mit ihr verbunden. Mein Herz fliegt ihren Worten zu, ich bin ganz bei ihr, wenn sie ihr Leben und ihr Leiden schildert. Ihre innere Zerrissenheit, den Kampf mit sich selbst, den Zweifel an sich. Wie sie irgendwann endlich den Mut aufbringt, mit allem zu brechen, wie konsequent sie dabei bleibt und alles verliert, was sie jemals kannte.
Es ist seltsam, aber ich spüre am Ende so etwas wie Stolz für diese junge Frau. Das sie es geschafft hat, ihren Weg zu gehen. Sie hat am Ende auf ihren Kopf und ihr Herz gehört und steht frei in allem, was sie tun möchte. Solche Bücher sind es, die anderen Menschen, Männern als auch Frauen, Mut machen. Mut machen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ihr Leben und ihren Glauben zu hinterfragen. Ist der Weg, wie ich Glaube der richtige für mich? Kann ich das mit mir, meinem Gewissen und den Menschen, die dieses Leben noch betrifft oder betreffen wird, vereinbaren? Ist das, was uns Menschen als den richtigen und einzigen Weg zu glauben vorschreiben, wirklich das richtige? Liebt uns ein Gott wirklich nur, wenn wir all diese seltsamen Regeln befolgen, von denen zwar viele durchaus ihre gesellschaftliche Relevanz haben, doch die meisten doch eher einer bereits lang ausgedienten Tradition entsprangen? Und wenn ich mich entscheide, nicht zu glauben? Nicht an Gott oder ein anderes höheres Wesen?
Es ist wichtig, sich diese Frage zu stellen. Es ist wichtig, nicht nur blind zu glauben, sondern zu hinterfragen, zu zweifeln und selbst zu denken.