Dort wo alles beginnt, Sommer 1984. Holly hat Streit mit ihrer Mutter und beschließt von Zuhause wegzulaufen. Zu ihrem Freund. Doch kaum bei diesem angekommen, erwartet sie die erste große Enttäuschung ihres Lebens. Wie recht ihre Mutter gehabt hat. Aber die Blöße wird sich das Mädchen nicht geben. Sie muss noch weiter fortlaufen, weg von allem, ihrem Leben, der Schule und vor Vincent. Sie will Erdbeerpflückerin werden, doch der Weg dorthin verändert ihr Leben. Als dann noch ihr Bruder Jacko verschwindet, ist nichts mehr so, wie es einmal war.

Was wir hier lesen, ist die Geschichte eines jungen Mädchens mit gebrochenen Herzen und zerschlagenen Träumen. Ein Teenager vom Leben enttäuscht und von seiner Familie frustriert. Der Einstieg ist mächtig, mitreißend erzählt und es könnte bis zur letzten Seite – der Seite 807 – so weitergehen. Doch David Mitchell ist dafür bekannt, Großes zu erzählen, epochal zu sein und alles irgendwie miteinander zu verknüpfen. Und so beginnen wir auf Seite 129 nichtsahnend das nächste Kapitel, gespannt auf Hollys weiteren Lebensweg, doch der Protagonist ist plötzlich ein anderer. Ein Schnösel. Ein aalglatter junger Mann namens Hugo Lamb. Privilegiert vom Leben und gelangweilt ob seiner Herkunft, Macht und gesellschaftlichen Position. Die Ferien verbringt er in einem beliebten Skiort, auch wenn Ski fahren nicht seine liebste Freizeitbeschäftigung ist. Die anderen Jungs, mit denen er unterwegs ist, langweilen ihn. Nur die dunkelhaarige Bedienung kann sein Interesse wecken. Die allerdings lässt niemanden an sich ran, aber Hugo Lamb wäre nicht Hugo Lamb, wenn er es nicht versuchen würde.

Und jetzt? Was kommt nach Kapitel Zwei? Klar: Kapitel Drei. Aber lesen wir wieder von Holly? Denn wechselseitiges Erzählen ist ja zu einem mehr als beliebten Stilmittel geworden, das uns in etlichen Büchern über den Weg läuft. Doch Kapitel Drei ist wohl das Schwierigste, denn so schnell wird nicht klar, wer uns hier seine Geschichte erzählt. Mitchell lässt wieder einen Neuen, jedoch nicht mehr unbekannten Charakter die Hauptrolle spielen. So hangeln wir von Kapitel zu Kapitel zu Kapitel. Begegnen Namen wie Ed Brubeck, Marinus, Aoife und vielen mehr.

Die Geschichte, die uns David Mitchell hier präsentiert, ist ausstaffiert mit fantastischen Elementen, eingebunden in das Alltagsleben der Menschen. Der ganze Aufbau unterliegt einer gut durchdachten und klaren Struktur, greift immer wieder ein anderes Element aus der Grundgeschichte des ersten oder zweiten Kapitels auf, so dass wir nie sicher sein können, wer unser neuer Erzähler ist, aus welcher Sicht die Geschichte nun weiter geführt wird.
Die fantastischen Elemente sind in ihrer eigenen Geschichte ziemlich verwirrend und über eine so lange Seitenzahl erzählt, dass es am Ende schwierig ist, ein genaues Verständnis für alles zu entwickeln. Nur wer Gut und wer Böse ist, wer Horologe wer Anachoret, das lässt uns der Autor hier erkennen. Es scheint als würden wir nur an der Oberfläche des Wissens über die verschiedenen existierenden übersinnlichen Mächte kratzen. Wirklich genial und immer wieder für einen mentalen Aufschrei gut sind die gut platzierten und vor allem gut durchdachten Hinweise, Zeichen und Handlungen von Personen zu irgendeinem Zeitpunkt des Buches, die später eine tiefere Bedeutung bekommen sollen und das Puzzle immer mehr zusammen fügen.
Die Geschichte spannt sich beginnend vom Jahr 1984 bis hin zum Jahr 2043. Die einzig große Konstante in allem bleibt die Figur der Holly Sykes, die zu Beginn ein wildes Mädchen, am Ende ein alte Frau ist. Was dazwischen passiert, ist in dieses gewaltige Meisterwerk gepackt.

Der Wolkenatlas ist das einzig weitere Buch, dass ich von David Mitchell gelesen haben, doch auch schon wie dieser Epos ist „Die Knochenuhren“ gut durchdacht, wohl strukturiert und mit einer hervorragenden Erzählkunst niedergeschrieben. Mitreißend und einfach großartig. Hätte die Benutzung eines bestimmten Wortes im vorletzten Kapitel nicht derart Überhand gewonnen und wäre die Gestaltung des Charakters Crispin Hershey weniger ausschweifend und konzentrierter ausgefallen, hätte das Buch auch die volle Punktzahl bekommen.

 

Spoileralarm (analysierender Vergleich zur Mitte des Buches „Der Wolkenatlas“ sowie dem Ende von „Die Knochenuhren“)
Schon in der Mitte von der „Der Wolkenatlas“ präsentiert uns Mitchell seine Version vom Ende der Welt. In dieser finden wir den jungen Zachry, der nur noch die elementare Grundsprache zur Verständigung beherrscht. Zachry lebt in einer Welt, in der nur noch wenige Menschen übrig geblieben sind. Was klar wird ist, dass die Menschheit sich selbst zu Grunde gerichtet hat und die Erde irgendwann ihren Tribut für alle die Jahre der Überbevölkerung, Misswirtschaft und der Umweltsünden gefordert hat. Alles wurde auf das simpelste und zum Überleben notwendigste herunter gebrochen. Von der „alten Welt“ gibt es nur wenig Überbleibsel.

Auch Holly Sykes erlebt im Jahr 2043, dem letzten Kapitel von „Die Knochenuhren“, das Beginnen eines ähnlichen Szenarios. Nach all den Jahres des Überflusses, des sorglosen Umgangs mit Ressourcen wie Erdöl und die freie Nutzung von Strom, ist das System kollabiert. Nur noch wenige Flecken auf der Erde, wie Island oder China, können es sich leisten, weiterhin den Lebensstill der ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts beizubehalten. Für weite Teile der Welt, die einstmals als aufstrebend und zivilisiert galten, herrscht Mangelware und der beginnende Kampf ums Überleben. In Irland, da wo Holly am Ende ihres Lebens beheimatet ist, werden in unbestimmten Abständen an jeden Bewohner bestimmte Rationen verteilt, Erdöl ist sehr knapp und Strom gibt es nur, wenn man Glück hat. Das Netz ist zusammengebrochen und wer nicht mehr unter dem Schutz der sogenannten „Stabilität“ steht, der muss sich vor Plünderern, Dieben und Mördern fürchten. Holly bemerkt selbst, dass der gedankenlose Umgang mit der Erde ihrer Generation der nächsten und sogar übernächsten Generation das Leben kosten wird.

David Mitchell führt uns also immer wieder vor Augen, wie die Welt in Zukunft aussehen könnte. Dass er bei beiden Geschichten ein warnendes Szenario gewählt hat, wird wohl weniger Zufall sein, als ein tatsächlicher Gedankenanstoß.


4.5/5