Immer wenn das nächste Buch perfekt werden muss, zieht es mich automatisch zu einem Sherlock Holmes Roman.

Das ist so etwas wie nach Hause kommen: einen Ort an dem man sich einfach wohlfühlt und der mich persönlich an Kindheit erinnert. Ich weiß was mich erwartet. Ich kenne die Figuren, wir sind quasi Freunde. Naja, eher alte Bekannte.

Die ersten Seiten sollen mir recht geben. Das Zimmer in der Baker Street 221 B ist so gemütlich wie eh und je. Holmes doziert gerade über seine Vorliebe zu Drogen, um der endlosen Langeweile zu entkommen. Ein Vortrag, den wir in der Originalreihe zum ersten Mal lesen, aber die Worte sind uns durchaus bekannt. Wie oft haben Schauspieler in den unterschiedlichsten Adaptionen genau dies ein ums andere Mal dem Zuschauer und Watson erklärt?

Gerade als die Langeweile zu groß werden sollte, kündigt sich Besuch an.

Es ist niemand geringerer als Mary Morstan. Der geneigte Leser beginnt innerlich zu jubeln, denn sie ist keine Unbekannte. Diese junge Dame, die voller Angst und Hoffnung die beiden Detektive besucht, wird später die Ehefrau Watsons. Das bleibt im Buch auch nicht lange ein Geheimnis. Watson ist sofort angetan von ihrer schlichten Schönheit und Intelligenz. Doch Mary ist nicht Watsons wegen in diesen Teil Londons gekommen, sondern wegen eines Briefes. Sie soll sich mit einem Mann treffen, der etwas über ihren verschwunden Vater und einem verlorenen Schatz zu wissen vorgibt. Die drei machen sich auf den Weg zu diesem Mann. Dies läutet nur den Beginn eines Mordes und einer wilden Verfolgungsjagd ein.

Meine frühesten Erinnerungen zeigen eher das Bild eines Pfeife rauchenden Detektivs, der in seinem Sessel darauf wartet, dass Klienten an ihn herantreten. Während er sich alles anhört, schweigt und grübelt er. Wie aus dem Nichts präsentiert er dann allen Beteiligten und dem Leser eine haarsträubende Lösung. Man kann kaum glauben, was man da hört. Doch ist der Fall erst einmal aufgeschlüsselt, hätten uns auch die Kleinigkeiten in den Worten des Klienten oder die Art der Kleidung oder des Ganges auffallen können. Allerdings ist dies bereits der zweite Roman den ich aktuell aus dem Kanon las, der so ganz anders ist als alles, was ich in Erinnerung habe. Wie kann das sein? Liegt es daran, dass ich früher mehr Kurzgeschichten las oder haben Film und Fernsehen ein falsches Bild in den Köpfen etabliert? Vielleicht ist es eine Mischung aus beidem.

Allerdings bedeutet dies nun nicht, dass die Art und Weise der Erzählung mir nicht gefallen würde.

Sie ist einfach anders als ich es erwartet hatte. Sie ist sehr viel mehr Energie geladen. Die Figuren handeln hier aktiv, greifen direkt in das Geschehen ein. Sie sind nicht der passive Zuhörer und Analytiker. Auf diese Weise bleibt der Handlungsbogen stets voller Spannung. Die Suche nach dem Schatz schweißt nicht nur unsere Detektive näher zusammen, sondern auch Watson und seine spätere Frau. Da gibt es diesen mysteriösen Brief, eine Spurensuche bei Nacht, die Entdeckung eines Mordes, das knappe Entkommen eines Anschlags und eine wilde Jagd auf dem Wasser.

Im Holmes Universum ist dies ein Roman, in dem viele Dinge das erste Mal vorkommen. Wir finden hier die erste Erwähnung von Miss Hudson, der gutmütigen Vermieterin der 221b Baker Street. Oder eben der späteren Frau Watsons. Auch der Drogensucht des Detektivs begegnen wir hier das erste Mal.

Oder dem Detective Athelney Jones.

Neben Gregson und Lestrade ist er ein dritter Ermittler von Scotland Yard. Im gesamten Kanon tritt er nur ein einziges Mal auf. Unser Chronist beschreibt ihn als einen bulligen rotgesichtigen Mann mit kleinen Äuglein. Er steht der Eifrigkeit und dem vorschnellen Ziehen von Schlüssen seiner Kollegen in nichts nach. Auch dass er am Ende den Erfolg des Detektivs als seinen eigenen einheimst, ist ein altbekanntes Motiv. Aber daran ist sowohl der Leser als auch Holmes schon gewöhnt. Der Detektiv nimmt es nicht so schwer und deshalb sollten wir es auch nicht tun.

Ich bin schon sehr gespannt auf das nächste Buch im Kanon, das ausschließlich aus Kurzgeschichten bestehen wird. Ob diese dann mit meinen Erinnerungen konform gehen, werden wir ja sehen. Diese Wiederentdeckung meiner Kindheitslektüre macht unglaublichen Spaß. Es ist nicht nur wie nach Hause kommen, sondern auch eine Neuentdeckung. Sherlock Holmes ist eben immer eine Reise wert.


4/5