Ich weiß nicht, wie ich an diesen Ort gelangt bin.

Alles, was ich weiß, ist, dass ich rennen muss. Ich renne und renne. Immer weiter mitten auf der Straße. Links und rechts von mir Häuser. Sie alle brennen. Die Flammen greifen nach mir. Mit einem Schrei in der Kehle erwache ich.

Dies ist einer der eindringlichsten Träume meiner Kindheit. Immer wieder traten die Träume in der einen oder anderen Form auf, aber viel wichtiger ist, was sie bedeuten: Nämlich die Offenbarung meiner Angst vor dem Feuer.

Klar, das Buch heißt „Der Zirkusbrand“. Offensichtlich wird hier also die Geschichte eines Feuers erzählt. Vielleicht sterben auch Menschen. Was mir nicht klar war: Hier wird gar kein Roman erzählt. Keine fiktive Geschichte also, mit fiktiven handelnden Personen. Keine Story á la „8 Blickwinkel“. Ernüchternd muss ich nach den ersten paar Seiten feststellen, dass es sich um ein Sachbuch handelt.

Doch die Ernüchterung hält nicht lange an – vielleicht die ersten paar Kapitel nur. Danach folgt Entsetzen, Ekel, Angst und gleichzeitig eine Faszination, wie sie nur ein Massenunglück hervorrufen kann.

Wir schreiben den 6. Juli 1944.

Der Zirkus steht schon einige Tage in Hartsford und auch an diesem Nachmittag sind viele Menschen gekommen, um sich die Vorstellung anzusehen. Der Zirkus ist für sie eine Ablenkung. Der Krieg ist hier nah und keiner will ständig darüber nachdenken müssen. So sind es vordringlich Mütter mit ihren Kindern, die an dem schicksalhaften Tag die Vorstellung besuchen. Das Zelt ist voll. Tausende von Menschen passen in das Hauptzelt hinein. Knapp 160 von ihnen sollen es nicht mehr lebend verlassen.

Denn gerade beginnt die Hochseilattraktion als sich eine Flamme durch das Dach des Zirkuszeltes frisst. Innerhalb weniger Minuten brennt die Zirkuswand wie Zunder, denn um es wasserdicht zu machen, wurde es mit Parrafin – einem Benzingemisch – behandelt. Nach der ersten Starre begreifen die Ersten den Ernst der Lage. Je größer das Feuer, desto größer auch die Angst und somit die Rücksichtslosigkeit. Aber es gibt auch Helden, tragische als auch glückliche.

Von Brand zu Brand

Bevor sich der Autor – der dieses Buch übrigens schrieb, weil es noch keine passende Abhandlung zu diesem Thema gab – voll und ganz auf diesen einen Tag im Juli konzentriert, berichtet er von anderen Bränden, die oft glimpflicher ausgingen als der große Brand in Hartsford.
Doch lange werden wir als Leser vor den Grausamkeiten nicht verschont. Immer wieder wechselt er die Perspektiven. Er beschreibt Menschen wie sie: zum Zirkus fahren, warum sie es gerade an diesem Tag eben nicht taten, wen sie verabschiedeten, wen sie zum letzten Mal sahen, wie sie zum Zirkus kamen, was sie taten bevor die Vorstellung begann, wo sie saßen. Wir begleiten so viele Menschen an diesem Tag, der Wechsel erfolgt so schnell, dass wir eine Weile brauchen, uns einen Überblick über das Gewimmel zu schaffen.

Der Fokus und damit auch der längste Teil des Buches liegen auf dem Tag des Ereignisses. Er berichtet, wie die Menschen sterben, wer es schafft und wer nicht. Wer es erst geschafft hat und dann den Kampf trotzdem verloren hat. Er beschreibt die Geschichte eines Jungen, dessen Vater ihn aus dem Zelt rettete, um dann wieder hineinging, um weitere Kinder zu retten. Der Junge sollte am Wagen warten. Später treffen wir diesen Jungen wieder. Am Wagen seines Vaters. Der Vater hat es nicht geschafft. Solche Momente sind es, die mich schlucken lassen, die es mir fast unmöglich machen, das Buch weiterzulesen. Denn nichts ist schlimmer, als die Realität.

Doch O’Nan macht nicht an diesem Tag halt.

Er berichtet von den nachfolgenden Tagen, von der Identifizierung der kenntlichen und unkenntlichen Leichen. Von dem Kampf der Verletzten, von Glück und Unglück. Von Polizisten, die ihre Arbeit machen, von Ermittlern, die Herz zeigen. Aber auch die Ereignisse der folgenden Jahre und Jahrzehnte zeigt er auf. So bildet sich ein umfassender Bericht über die damaligen Geschehnisse. Zuweilen ist es sehr emotional. O’Nan schont seinen Leser nicht, bleibt nicht nur an der sachlichen Oberschicht. Es ist die Brutalität des Feuers, die uns durch dieses Buch wieder klar wird. Ein Feuer ist unberechenbar, tödlich und verheerend.

Zirkusse sind heute weniger beliebt, als noch in den 40er Jahre. Sei es, weil sie ihren Zauber verloren haben oder weil uns bewusst geworden ist, wie sehr Tiere durch so eine Haltung und Dressur gequält werden. Als Kind war ich ein oder zweimal im Zirkus. Es ist nie etwas passiert. Ich erinnere mich nur an den Gestank und die Wärme im Zelt. Und die Höhe der Bankreihen und das mir manchmal schwindlig wurde, wenn ich hinunter geschaut habe. An diesem Ort zu sterben, stellt man sich als Kind nicht vor. Doch die Bilder von früher waren auch beim Lesen präsent und holten das, was dort geschrieben steht, noch mehr in die eigene Realität.


4.5/5