Desfred wird sie genannt.

Es ist nicht ihr richtiger Name. Den musste sie schon vor einigen Jahren ablegen. Sie darf nicht mehr sein, wer sie einmal war. Das ist lange vorbei. Sie muss jetzt das sein, wozu sie bestimmt worden ist: eine Magd. Eine Frau ganz in Rot gehüllt von Kopf bis Fuß mit Flügeln an den Seiten ihres Gesichtes. Sie darf nicht viel sprechen und darf nicht angesehen werden: Von anderen Männern, ja eigentlich nicht einmal von anderen Frauen. Sie soll stumm sein und das tun, was ihr gesagt wird. Ihre Aufgabe erfüllen. Wenn sie das nicht schafft, muss sie vielleicht in die Kolonien.

Das Leben innerhalb der Mauern – dort wo es keine Unfrauen mehr gibt, jenseits der Kolonien, jenseits von Gift und Gefahr – ist stark geprägt durch Hierarchien. Jede Frau und jeder Mann hat seinen ganz bestimmten Platz in der Gesellschaft. So ist es in Ordnung. Nicht, wie all die Jahre und Jahrzehnte zuvor als die Welt und die Menschen immer mehr ihrem eigenen Verderben entgegensteuerten. Frauen und Männer nicht mehr heirateten, sich gegen Kinder entschieden und ihre sexuellen Freizügigkeiten genossen. Die Folge war eine Reduzierung der Weltbevölkerung. Doch jetzt – so glauben die „Augen“ – wird durch die Ordnung alles wieder besser werden.

Desfred ist mittendrin. Sie hat eine der wichtigsten Aufgaben in der Gesellschaft, doch hat sie auch alles verloren: ihren Mann und ihre Tochter. Sie ist auf sich allein gestellt, wurde von „Tanten“ neu erzogen, kam in einen Haushalt, in dem sie nun die ihr angedachte Funktion erfüllen soll. Doch immer noch ist sie eine Frau. Alles was ihre Weiblichkeit ausmacht, muss verhüllt werden. Ihr wird alles genommen, nicht nur in menschlicher Hinsicht, sondern auch alles Materielle. Es ist egal, wie sie aussieht, sie muss gehorchen. Doch täglich kann sie an der Mauer sehen, was mit denen passiert, die sich dem System nicht anpassen wollen. Errettung nennen sie es.

Wem kann sie in dieser Welt noch trauen? Wer ist Freund und wer Feind? Wer Spion, wer Retter?

Margaret Atwood erzählt ihre Geschichte durch die Stimme der Magd Desfred. Die junge Frau berichtet uns aus ihrem Leben. Sie schreibt aus ihrer Erinnerung nieder, alles was sie erlebt hat. Ihre Geschichte beginnt inmitten des Geschehens und so endet sie auch. Wir wissen nur das, was sie uns erzählt. Es macht den Eindruck, dass ihr selbst nicht ganz klar ist, wie es zu dem Umsturz kommen konnte und wie es draußen aussieht. So muss sie sich auf geflüsterte Informationen verlassen, um erpresste oder erschlichene Worte, die ihr die Welt ein bisschen klarer machen.

Was Atwood erzählt hat System und wie sie es erzählt gibt dem Leser das Gefühl, selbst mitten drin zu sein. Desfred – deren richtiger Name nicht ein einziges Mal erwähnt wird – weckt Vertrauen und Mitgefühl in uns. Sie schildert uns so einfach, wie es ihr möglich ist, was sie erlebt und wie sie es erlebt. Den ganzen Schrecken begreift der Leser im ganzen Buch nicht, erst als der Epilog stattfindet, kommt so etwas wie Verknüpfung im eigenen Denken zustande.

Die Autorin beschreibt ein dystopische Welt – ein mögliches zukünftiges Szenario – das in allen seinen Punkten durchdacht ist und durchaus wahr sein könnte. Oder irgendwann möglich sein könnte. Es wird nicht übertrieben, zuviel erzählt, zuviel fantasiert. Die Erzählung ist einfach und klar. Die Protagonistin beschreibt strukturiert und intelligent. Sie ist zugleich einfühlsam als auch distanziert. Die Geschichte hält den Leser in ihrem Bann. Wir erfahren immer dann genug Bruchstücke aus dem großen Ganzen, wenn wir es brauchen. Die Autorin spielt hier ein wenig mit uns, aber das ist es was Margaret Atwood kann, neben einer ganz anderen entscheidenden Sache:

Geschichten erzählen.


5/5