„Sie kriegen das Zimmer. […] Sie sind die Jüngste und die Schönste, Sie werden hier Untermieterin.“
Saturnine hatte nicht gewusst, dass sie sich in einem Casting für die schönste Untermieterin befand, als die Frau neben ihr sie so unverblümt ansprach. Die Annonce war einfach zu verlockend gewesen. In Paris fand man keine Wohnung zu diesem Preis. Doch Saturnine ist Ausländerin und nicht bekannt mit den Geschichten um den geheimnisvollen Vermieter, der nun schon acht Frauen in seiner Wohnung beherbergte, von denen alle eines Tages verschwanden und nie wiede gesehen wurden.
Wollte die Frau ihr nur Angst machen? Wenn ja, schön – sie hatte keine und wenn nein, auch gut, sie hatte immer noch keine.

Das Bewerbungsgespräch für die Wohnung ist kurz und bündig. Sie bekommt das Zimmer. Und ja, alle Frauen in den letzten achtzehn Jahren seien verschwunden und er wolle es gern erklären. Er, das ist Don Elemirio. Ein mittelmäßig aussehender, leicht depressiv wirkender Mann. Er ist reich, doch seit dem Tod seiner Eltern ist er nicht mehr vor die Haustür gegangen. Saturnine kann dagegen handeln, wie es ihr beliebt. Er sperre sie nicht ein. Nur seine Dunkelkammer dürfe sie niemals betreten, denn er würde es wissen, wenn sie es getan hat und sie würde es bitter bereuen.

Amélie Nothomb ist eine Meisterin der direkten Rede, der Wortspiele und vor allem der Dialoge zwischen zwei Menschen. Sowohl Saturnine, die sich durch den seltsamen Mann, der sich sofort in sie verliebt, nicht einschüchtern lässt, als auch Don Elemirio, der seinen Wortschwall seiner Verliebtheit zuschreibt, sind schlagfertig, in ihrer Logik intelligent und eloquent. Manche dieser Wortwechsel entspinnen sich zu einer Spirale, die ,je weiter die beiden in eine Diskussion einsteigen, immer schneller werden, bis die Autorin den Schwall unterbricht, die Ruhe einer Erzählung wieder herstellt, indem sie die Charaktere ihre Handlungen ausführen lässt. Doch wie auch die beiden Akteure in diesem Stück wartet auch der Leser fast sehnsüchtig auf die nächste Begegnung, allein um den Worten, dem Charme und dem Witz der Konversation zu lauschen.

Amélie Nothombs Blaubart ist nichts anderes als eine moderne Nacherzählung des Märchens vom Ritter Blaubart.
Ein Mann, der ebenfalls mehrere Frauen in seiner Burg beherbergte und auch diese letzte nun mit einer Bitte betraut, die Kammer am Ende des Flurs nicht zu öffnen, obwohl er ihr im selben Atemzug den goldenen Schlüssel überreicht. Natürlich kann sie nicht widerstehen und öffnet die Türe, hinter der Ritter Blaubarts grausiges Geheimnis liegt. Am Ende der Geschichte wird die Frau von ihren Brüdern und Schwestern gerettet, wie es eben in einem guten Märchen zugehen muss. Nachlesen kann man dies übrigens auf der Seite vom Projekt Gutenberg. Die Website hat es sich zur Aufgabe gemacht alte und längst vergriffene deutsche Texte digital bereit zu stellen. Diese Werke unterliegen meist nicht mehr dem Urheberrecht. Auch das Märchen vom Ritter Blaubart ist dort zu finden und als Ergänzung zu diesem Buch eine wunderbare Empfehlung: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-schonsten-marchen-623/36

Die Autorin transportiert das alte Märchen in die Moderne, verleiht ihm den passenden Witz und den dazu gehörenden Charme, spielt mit weiteren Motiven, kehrt alles wieder um und bleibt am Ende trotzdem irgendwie beim Original.


4/5