Du kannst mich nicht sehen.

Du kannst mich nicht hören. Du kannst mich vielleicht fühlen, wenn du ganz nah ran gehst und deine Hand auf den Bauch meiner Mutter legst. Wenn ich will, zeige ich dir dann, dass ich existiere. Du wirst es für einen Zufall halten. Nur ich weiß, dass ich absichtlich gegen diese Wand getreten habe, um auf mich aufmerksam zu machen. Denn was niemand weiß: Ich kann denken. Und wenn ich denke, dann bin ich.

Ich bin das ungeborene Kind meiner Eltern. Ich hatte mich gefreut beide kennen zu lernen. Meine wunderschöne Mutter und meinen klugen Vater. Bald sollte es soweit sein, denn meine Zeit in diesem beengten Raum – meiner persönlichen Nussschale – nähert sich dem Ende. Doch du, meine Mutter, willst weder mich noch meinen Vater. Du willst nur diesen groben Mann von geringer Intelligenz. Er verspricht dir nichts, behandelt dich nicht einmal besonders gut. Alles was dich reizt, ist sein Körper und das Verlangen, was er in dir auslöst.

Deine Arroganz und Ignoranz reicht soweit, dass du deinen Ehemann aus seinem eigenen Haus vertrieben hast. Um es mit niemand geringerem als mit deinem eigenen Schwager zu treiben. Er – dein Mann – ist nur ein Dorn im Auge und nichts könnte schöner sein, als ein Leben ohne ihn. Er soll für immer verschwinden. Ich kann den Plan nicht verstehen und durchschauen, den du da mit meinem Onkel triffst. So vorsichtig seid ihr darüber zu sprechen, aber ich werde das nicht zulassen, denn es ist mein Vater.

Die Perspektive eines ungeborenen Kindes

Aus der Sicht eines Kindes zu schreiben mag keine ungewöhnliche Erzählperspektive sein. Doch wie oft kommt es vor, dass man einem Ungeborenen Gedanken und Worte in den Mund legt. Trotz seines Alters hat der Leser das Gefühl, die Geschichte von einem Erwachsenen erzählt zu bekommen. Und wie es uns erzählt wird!

Klug und durchaus eloquent trägt uns die Sprache des Kindes über die Seiten hinweg. Wir folgen philosophischen, politischen und intelligenten Gedankengängen, fragen uns aber kaum, woher das noch ungeborene Wesen dies alles wissen kann. Die Wahrheit ist, dass der Autor wie nebenbei die passenden Gründe einwirft, so dass wir mehr als nur gewillt sind, all das zu glauben. Es ist das Gehör der Mutter, dass die Sprache des Kindes begünstigt. Sie stopft ihren Kopf voll mit Wissen, wenn sie nachts nicht schlafen kann. Ungefiltert dringen die Informationen zu dem Kinde durch, das es verwertet und uns wiedergibt. Schon seine Gene machen ihn zu einem intelligenten Wesen. Sein Vater ist Schriftsteller. Doch neben all den schönen Künsten und Gedanken merken wir doch auch die Traurigkeit. Die Angst vor dem, was kommen wird nach einem Leben im Bauch der Mutter und der Zwiespalt zwischen Hass und Liebe zu seiner Mutter.

Hamlet ist zum Studium in Wittenberg,
da vollzieht sein Onkel hier sein böses Teufelswerk:
Vergiftet Hamlets Vater – böse, aber schlau – und nimmt sich Hamlets
Mutter, die Königin, zur Frau.
Hamlet- Wise Guys

Ähnlich dem dänischen Prinzen steckt auch unser Ungeborenes in einer Zwickmühle. Er erkennt die Ungerechtigkeiten im Handeln seiner Mutter und seines Onkels gegenüber seinem Vater und ist doch irgendwie machtlos. Es ist eingeschlossen in seiner eigenen Blase und zur Untätigkeit verdammt. Wo Hamlet (das Baby) nur zusehen kann, schmieden seine Mutter Gertrude (Trudy) und sein Onkel Claudius (Claude) einen perfiden Plan gegen seinen Vater. Die Parallelen sind nicht zufällig, sondern durchaus gewollt. Denn entstanden im Shakespeare Jahr 2016 ist dieser Roman eine Hommage an den großen Dramatiker. Eine moderne Interpretation mit einer ziemlich speziellen Sicht. Wie auch Hamlet Geister sieht und so das ganze Drama einen gewissen verwirrenden Touch bekommt,  so ist doch hier die gewählte Perspektive etwas Besonderes und Einzigartiges.

Was nun bleibt ist eine Geschichte über Verzweiflung, über das Übel der Untätigkeit und den Kummer darüber, egal was man weiß oder was man glaubt zu wissen, nichts ausrichten zu können.


4/5