Kukolka.

Das ist das russische Wort für Püppchen. Doch wie Samira im letzten Drittel des Buches passend feststellt, ist sie gar kein Püppchen. War nie eines gewesen, denn ganz unten war sie von Anfang an.

Der Anfang, das ist für Samira ein Kinderheim in der Ukraine, in dem sie aufwuchs. Ihre ersten Erinnerungen reichen zurück, da ist sie gerade sechs Jahre alt. Ihre Eltern kennt sie nicht, im Heim wird sie gemieden. Sie sieht aus wie eine Zigeunerin: dunkle Haut, dunkles Haar und strahlende blaugrüne Augen. Die Kinder dürfen nur auf der rechten Seite schlafen, ansonsten zerquetschen sie ihr Herz. Sie hat eine einzige Freundin: Marina. Mit Marina kann sie alles ertragen. Doch Marina hat Glück. Sie wird von Deutschen adoptiert. Dahin will Kukolka auch. Es ist ihr allergrößter Traum.

weg.

Als die Schikanen im Heim zu groß und ihre Sehnsucht nach Marina zu stark wird, haut sie ab. Sie will am Bahnhof ein Ticket nach Deutschland kaufen. Doch sie hat kein Geld. Ein Mann findet sie. Er heißt Rocky und nimmt sie mit nach Hause. Dort sind bereits andere gerettete Kinder. Sie leben dort zusammen in einer kleinen Wohnung. Die Kinder und der Mann. Sie haben kein warmes Wasser und keinen Strom. Um zu überleben müssen sie für Rocky klauen und betteln gehen. Für Samira ist es zunächst der Himmel auf Erden. Sie hat Freundinnen. Lydia, die sich als Freundin von Rocky sieht und Dascha, der Zombie, der lieber sterben als Leben will. Und Ilja, der keine Augen mehr hat, dafür wunderschön Akkordeon spielen kann. Samira will mit ihm singen. Doch dann wird sie älter und schöner. Rocky verlangt Dinge von ihr. Sie soll seine Kukolka sein.

Irgendwann, da ist sie fast dreizehn, kommt ihr Traumprinz die Treppe zur Unterführung hinunter, in dem sie täglich steht und singt. Er schenkt ihr Rosen, lädt sie zum Essen ein. Rettet sie vor Rocky. Samira zieht zu ihm, doch was sie noch nicht merkt, ist dem Leser schon lange klar. Es ist zu schön, um wahr zu sein.

Anrührend und grausam.

In drei Teilen zeigt uns die Autorin Lana Lux die harte Realität auf. Wir wissen, dass eine Samira auch im wahren Leben existieren könnte. Unwissend, naiv, orientierungslos und ohne Zukunft. Ein Mädchen, ungewollt von den Eltern, wächst in einem Heim auf. Aufgelesen von einem Mann, der sie und andere Kinder ausnutzt. Sie wie Sklaven hält. Sie zu Dieben und Bettlern heranzüchtet, um sich sein Leben zu finanzieren. Gerettet von einem Zuhälter. Verkauft und verraten. Und immer, aber auch immer muss sie dankbar sein. Dafür, dass man sie gerettet hat. Was wäre sie nur ohne diese Männer. Diese Männer, die mit ihrem Leben machen, was sie wollen. Und Samira muss dankbar sein.

Wir erleben wie dieses Kind, diese Kukolka, erwachsen wird. Nicht nur körperlich, sondern auch wie sie langsam die Erkenntnis trifft. Die Erkenntnis über das wahre Wesen der Menschen. Wir fühlen mit ihr, wollen sie aus dem Roman herauszerren und ihr echte Hilfe anbieten. Olga Grjasnowa schrieb über dieses Buch, dass sie sich nie so sehr wie hier nach einem Happy End gesehnt hat. Man kann dieser Schriftstellerin nur zustimmen. Es gibt Momente, in denen Samira glücklich zu sein scheint. Eine Familie hat, nach der sie sich so sehr sehnt. Wir wissen viel mehr als dieses Kind. Schon von Anfang an möchte man ihr zuschreien, dass sie einfach weglaufen soll. Doch wohin weiß man auch nicht.

Die Protagonistin schreibt in einem Tagebuch sehr passend: ‚Wer bin ich?‘ Und darunter: ‚Wer weiß, dass es mich gibt?‘ Es ist die Erkenntnis eines Teenagers. Eine Erkenntnis, von der sie als Kind verschont geblieben ist, die sich aber, je älter sie wird, in ihrem Herzen festsetzt.

Es ist kaum zu ertragen, was Kukolka passiert. Wir fragen uns, wie sie es erträgt. Wie es überhaupt einer erträgt. Die Autorin zwingt uns, es mit anzusehen. Hinzusehen. Uns vor Augen zu führen, dass dies keine Fiktion ist, auch wenn die Figuren fiktiv sind. Kukolka ist ein Roman, der nachhallt. Der traurig und wütend macht. Der beklemmend und grausam ist. Unbedingt lesen!


5/5