Wie ist es wohl blind zu sein?
Und wie ist es wohl als einzige Sehende unter Blinden zu wandeln?
Es beginnt mit dem ersten Blinden. Noch steht er an der Ampel und wartet darauf, dass das Licht von Rot auf Grün wechselt, dann sieht er plötzlich nur noch weiß. Er gerät in Panik, doch ein besonnener Mitbürger – der ihm später das Auto stehlen soll – eilt ihm zur Hilfe und geleitet den Blinden zu seiner Wohnung. Wenige Stunden später bestraft den diebischen Helfer das Schicksal: auch er erblindet. Und der Augenarzt, der ihn behandelt, die Frau mit der Sonnenbrille, der schielende Junge und der Mann mit der Augenklappe, die sich im Behandlungszimmer befinden: sie alle erblinden, einer nach dem anderen.

Nur der Arzt ist der Vorausschauendste unter ihnen: er erkennt in der plötzlichen Blindheit eine Epidemie, die – obwohl Blindheit im Grunde nicht ansteckend ist – sich doch von Mensch zu Mensch überträgt. Er unterrichtet die Regierung davon und nur wenige Stunden später befinden er und seine Frau sich auf dem Weg in die Quarantäne. Die Frau des Arztes ist nicht erblindet, doch in einem Augenblick der Klarheit behauptet sie auch erblindet zu sein, um ihren Mann begleiten zu können.
Und so beginnt der erste Teil des Romans.
Die Regierung versucht das Schlimmste zu verhindern und nutzt eine alte Irrenanstalt um dort die Erblindeten von den Sehenden abzuschirmen. Doch aus Angst vor einer Ansteckung wird die Menschlichkeit auf das Minimum reduziert. So sind die Blinden außer einer unregelmäßigen Lieferung von Nahrungsmitteln auf sich selbst gestellt. Niemand erkennt, dass die Frau des Arztes sehen kann. Doch gerade sie ist es, die zur guten Seele wird und anfängt sich zu wünschen, sie selbst würde erblinden. Denn die Umstände werden immer dramatischer, es bilden sich Gruppen, Menschen, die anderen Menschen nur Böses wollen und alle Grenzen überschreiten.
Saramago spielt hier mit dem typischen „Geschlossener-Raum-Szenario“. Menschen, die ohne Möglichkeit des Entkommens zwangsweise zusammen gesperrt sind. Da sich kein Anführer findet, der die verzweifelten Blinden organisiert und ihnen etwas Halt und Sicherheit bieten kann, gibt es unter ihnen immer diejenigen, die die Situation zu ihrem Vorteil nutzen wollen.

Im zweiten Teil des Buches sehen wir Leser, was aus der Welt draußen geworden ist, denn mittlerweile gibt es niemanden – abgesehen von der Frau des Arztes – der noch sehen kann. Überall herrscht Chaos, Dreck und Tod. Und da ist eine kleine Gruppe von Menschen, die wir aus dem ersten Teil schon kennen, die es geschafft haben, zusammen zu bleiben und zu leben. Wieder ist es die Frau des Arztes, die die schwerste Last tragen muss. Denn sie muss nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf die Menschen aufpassen, die ihr vertrauen.

Blindheit ist eins der schlimmsten Dinge, die man sich als Sehender vorstellen kann. Saramago beschreibt die Angst, die Verzweiflung und die Orientierungslosigkeit der Menschen so überzeugend, dass es einem bei der Vorstellung kalt den Rücken runterläuft. Er gibt keinen der handelnden Personen einen Namen. Namen sind Schall und Rauch. Die Figuren werden auf das Wesentliche reduziert. Mehr braucht man von ihnen nicht zu wissen, denn ein Name würde ihnen einen Charakter geben. Aber den soll der Leser nicht kennen, sondern sich sein eigenes Bild schaffen. Nur durch das, was sie tun oder sagen, definieren sie sich nun. Und wir sie mit ihnen.
Saramago spielt nicht nur mit dieser Art von Beschreibung mit dem Leser, sondern schreibt Sätze, die niemals enden zu wollen scheinen, sie werden lediglich mit einem Komma getrennt, auch wenn ein Punkt gesetzt hätte werden können. Das macht es manchmal bei Konversationen schwierig, ihm zu folgen, doch schon bald ist das kein Problem mehr. Man fließt mit den Wörtern mit, versteht den Autor und die Atmosphäre, die er damit bildet und lässt sich von der Geschichte mitreißen. Man ist fasziniert und schockiert zugleich. Beginnt – je länger die Geschichte dauert – immer mehr für ein positives Schicksal der Gefährten zu hoffen. Und je mehr man erfährt, desto stärker fragt man sich:
Ist der Einäugige unter den Blinden wirklich König?


4/5