Eine Reihe betrüblicher Ereignisse

Harry ist völlig überwältigt, als ihn seine Schwägerin Jane an Thanksgiving heimlich in der Küche küsst. Das dies eigentlich der Anfang vom Ende ist, weiß er da noch nicht. Kurz darauf fährt sein Bruder George sein Auto in einen anderen Wagen und tötet damit zwei Menschen. Der Junge, der auf der Rückbank im Auto seiner Eltern saß, überlebt. Während George in der Psychiatrie untersucht wird, kümmert sich Harry auf Anweisung seiner Frau um seine Schwägerin. Wie dies endet, kann man sich sicher denken. Aber auch das ist schnell wieder vorbei, denn George bricht aus der Klapse aus, fährt nach Hause und schlägt dort seiner Frau den Schädel ein.

Wer jetzt denkt, dies würde die gesamte Handlung umreißen, den muss ich enttäuschen. All das passiert lediglich auf den ersten 30 Seiten. Und es ist wirklich der Anfang vom Ende für Harry oder wie er später merkt: Der Anfang von einem neuen Leben. Nachdem George seine Frau tötete, reicht Harrys Frau die Scheidung ein und wirft ihn aus der gemeinsamen Wohnung. So sieht er sich gezwungen, in das Haus seines Bruders zu ziehen, wird gleichzeitig Treuhänder seines Vermögens und Vormund für die Kinder. Das alles geht mit einer Verantwortung einher, die Harry so in seinem Leben noch nicht erlebt hat.

Er verliert nicht nur seine Ehefrau, sondern auch seinen Job an der Universität als Dozent. Er ist Spezialist für Richard Nixon und dessen Lebensgeschichte. Doch für den Unterricht ist dieses Themengebiet nicht mehr modern genug. Mit Harry scheint es bergab zu gehen. Sein ganzes Leben ist auf den Kopf gestellt, er weiß nicht mehr ein noch aus. Oft steht er am Rande eines Nervenzusammenbruchs und erleidet letztendlich einen Schlaganfall. Er beginnt sich in sexuelle Abenteuer zu werfen, doch so chaotisch sein Leben geworden ist, so plötzlich bekommt er es auch wieder auf die Reihe.

Das Scheitern und Aufstehen

Wir sehen unseren Protagonisten – einen Mann in den mittleren Jahren am Boden seiner Existenz – also nicht nur beim Scheitern zu. Das wäre auch kaum zu ertragen gewesen. Stattdessen bekommt er in der letzten Hälfte des Buches sein Leben mehr oder weniger in den Griff. Dies geschieht weniger aus eigener Tatkraft – die Harry hier nur in Maßen besitzt – sondern durch Zufälle und Lenkung durch außen. Er ist ein Mann der geleitet werden will. In seiner Familie ist er der Versager, der Dumme, während sein Bruder George immer der Erfolgreichere war. Zugegebenermaßen ist die Aggressivität bei George auch höher ausgeprägt. Schon immer nahm er sich was er wollte und kam damit durch.

George spielt jedoch in diesem Roman eine untergeordnete Rolle. Viel mehr liegt der Fokus hier auf Harry, seinem Scheitern und seinem Kämpfen. Das Tempo zu Beginn wird im Rest des Romans nicht gehalten. Eher ruhig und strukturiert wird das Geschehene wiedergegeben. So kommt es leider dazu, dass es sich zur Mitte hin ein wenig zieht. Wäre nicht irgendwann die Wende im Schicksal Harrys gewesen, so wäre der Rest des Buches ziemlich zäh und einseitig verlaufen.

Ein bisschen Kitsch zum Schluss

Doch Harrys Kampf um Anerkennung bei den Kindern und seine Mühe um andere Personen um ihn herum, machen es dem Leser leicht, die letzten zweihundert Seiten zu lesen. Auch richtig ist, dass das Ende fast schon kitschig glücklich ist. Der Roman endet ein Jahr nach dem schicksalhaften Thanksgiving und zeigt uns stellvertretend durch all die auftretenden Figuren noch einmal das, was Harrys Leben im letzten Jahr bewegt hat.
Die Autorin schreibt witzig und klug. An einigen Stellen wird sie gar gesellschaftskritisch, wenn zum Beispiel Nate (Georges Sohn) merkt, dass all seine Spenden für ein armes Dorf in Afrika nicht für praktische Sachen, sondern zur Erfüllung von Luxusträumen verwendet werden wollen. Und wie auch schon in „Das Ende von Alice“ wählt sie einen männlichen Protagonisten. Wobei der Protagonist in „Das Ende von Alice“ wesentlich stärker war und so dieses Buch besser bewertet werden muss als der vorliegende Roman.
Nichtsdestotrotz ist dies eine Geschichte über Amerika, über das Scheitern und wieder aufstehen, über eine Bruderliebe und über die Suche nach dem Glück.


4/5