Kurzgeschichten sind nicht jedermanns Sache. Aber auch nicht jedermann würde bei einem dubiosen Straßenhändler Dinge kaufen und schon gar nicht, wenn es dunkel und weit nach Mitternacht ist. Zumindest fühlt sich King selbst wie ein solcher, der seine Waren an jeden feilbietet, der auch nur in seine Nähe kommt. Man mag seine Kurzgeschichten gut oder schlecht finden. Über Geschmack lässt sich bekanntlich vortrefflich streiten. Und tatsächlich sind einige Geschichten ein Genuss, wieder andere dümpeln zwischen den Seiten und auch seine Versuche, sich der Lyrik hinzuwenden…ich muss sagen, vielleicht verstehe ich diese Art von Text einfach nicht. Es sind nicht nur neue Erzählungen, die uns der Meister des Horrors uns hier präsentiert. Einige sind bereits als eBook oder in anderen Medien erschienen. Manchmal sind sie jedoch an der einen oder anderen Stelle vom Autor selbst überarbeitet worden. Aber es gibt auch viel neues Futter. Es folgt ein kurzer Überblick über alle in diesem Band versammelten Geschichten.
Insgesamt sind es zwanzig. Nicht jede bleibt im Gedächtnis haften, aber die eine oder andere Perle, über die man noch einige Zeit nachdenkt, ist dabei. Und schon deshalb lohnt sich dieses Buch. Und auch wegen der einzelnen kleinen Vorworte, die King jeder Kurzgeschichte voranstellt. Wann bekommt man schon mal einen solchen persönlichen Einblick in die Entstehung einer Idee?

► Raststätte Mile 81
Bereit als eBook erschienen. George soll eigentlich auf seinen kleinen Bruder aufpassen. Doch für seine Gang ist Pete noch viel zu klein, außerdem will er nicht als uncool gelten. Und so lässt er Pete allein. Pete ist sauer. Er wird diesen Jungs schon zeigen, wie mutig er ist. Er wird zur alten verlassenen Raststätte fahren und dort Abenteuer erleben, die die Jungs grün werden lassen vor Neid. Wie recht er damit haben soll, weiß er noch nicht. Ein typischer Stephen King. Eine im Detail modernisierte Fassung, um der heutigen Popkultur Rechnung zu tragen.

► Premium Harmony
Eine etwas seltsame Geschichte über die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau. Sie wollte doch nur eben einen lila Ball für ihre Nichte kaufen. Und warum rennt diese Supertmarktangestellte dann auf seinen Wagen zu?

► Batman und Robin haben einen Disput
Ein zunächst rührende Geschichte über die Beziehung eines Mannes zu seinem dementen Vater. Aber King wäre nicht King, hätte er da nicht schon eine Wendung in der Hinterhand. Eine nette Geschichte, in der King zwei Beobachtungen aus seinem Leben zusammenfügt.

► Die Düne
Seit 80 Jahre fährt ein Richter Tag für Tag mit einem Kanu auf eine kleine Insel. Seit dem Tag in seinem zehnten Lebensjahr zieht es ihn wie einen Sog dahin. Als er das letzte Mal dahin fuhr, fasste er einen Entschluss: Er muss so schnell wie möglich sein Testament fertig schreiben. Eine sehr gute Geschichte.

► Böser kleiner Junge
Bereits als eBook veröffentlicht im Rahmen von Kings Europabesuch. Genaueres gibt es hier. Spoiler: Immer noch gut.

► Ein Tod
Jeder weiß, wer das Mädchen ermordet hat. Es braucht keine Beweise, um jemanden an den Galgen zu hängen. Es gibt sowieso keinen Zweifel. Doch ist es wirklich so einfach? King erzählt hier äußerst nüchtern und spielt mit den Erwartungen.

► Die Knochenkirche
Das erste von zwei Gedichten. Ein Gedicht über den Tod. Auch wenn der Stil nicht jedem zusagt, so erinnert der Inhalt und die Form der Geschichte sehr an Werke H. P. Lovecrafts.

► Moral
Würde man für Geld eigentlich wirklich alles tun? Diese Frage muss sich eine junges Ehepaar stellen. Als die Frau ein Angebot ihres Patienten bekommt, kann sie so gut wie nicht nein sagen. Doch wie wird sie damit leben können und wird ihre Liebe das aushalten? Eine interessante Geschichte über den Verfall der Moral.

► Leben nach dem Tod
Die Darstellungen in dieser Geschichte treffen – bis auf das Ende – so ziemlich meine Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Ein schwieriges Thema mit dem sich King hier humorvoll auseinandersetzt. Die Geschichte zeigt, dass Kings Sinn für  schwarzen Humor nicht eingerostet ist.

► Ur
Bereits als eBook veröffentlicht. Anlässlich der Einführung des Kindle wurde King gebeten ein Geschichte für diesen und mit diesem zu schreiben. Nach anfänglichem Zögern wuchs aber dennoch eine Idee in ihm. Was wäre, wenn uns nicht nur die Bibliothek unserer Zeit, sondern aller Zeitstränge, die es hätte geben können, zur Verfügung stehen würden. Und was ist, wenn wir sogar Zeitungsberichte aus der Zukunft lesen könnten? Freunde des dunklen Turms kommen hier besonders auf ihre Kosten, denn King geizt nicht mit Referenzen.

► Herman Wouk lebt noch
Das Leben ist spontan. Und wenn es einem sonst nichts mehr zu bieten hat, außer weiterhin am Rande der Existenz zu leben, von niemanden beachtet oder geliebt, dann fällt es einem nicht sonderlich schwer, die letzte spontane Konsequenz aus dem Möglichen zu ziehen. Eine Geschichte, die ein leicht anderes ende vermuten lässt und so doch möglicherweise den einen oder anderen Leser überrascht.

► Ein bisschen angeschlagen
Während seine Frau krank zu Hause im Bett liegt, geht der Mann mit seinem Hund spazieren. Zu Hause schreibt er ihr noch schnell eine Nachricht auf einem bunten Zettel und heftet sie zu den anderen bunten Zetteln. Dann macht er sich auf den Weg in sein Büro. Bizarr und packend. King hat recht: Es ist nicht immer wichtig, wenn man das Ende schon kennt.

► Blockade Billy
Eine Geschichte über Baseball. Eine lange Geschichte über Baseball. Eine Geschichte mit vielen Baseball-Begriffen. Eine Geschichte über das Baseball-Spielen. Ich glaube in diese Geschichte geht es um Baseball. Man kann der Geschichte immerhin zugutehalten, dass sie auch einen King-typischen Twist hat, mehr aber auch nicht.

► Mister Sahneschnitte
Wenn Mister Sahneschnitte auftaucht, war es früher vielleicht ein Zeichen von Erotik und Knistern und Spannung. Wenn er heute in den Räumen eines Altersheimes auftaucht ist das normalerweise kein gutes Zeichen. Wieder eine Geschichte über das Altsein und dem Umgang mit dem Tod. 

► Tommy
Das zweite Gedicht. Tommy starb 1969. Und alle seine Freunde treffen sich auf der Feier nach seiner Beerdigung. Ende.

► Der kleine grüne Gott der Qual
Wenn man reich ist und krank, passiert es schnell, das sich Quacksalber im eigenen Haus einfinden. Sie versprechen die große Heilung, die Befreiung von den unerträglichen Schmerzen. All das hat die Krankenschwester Kat schon tausendmal gesehen. Doch diesmal reißt ihr Geduldsfaden. Dann wird sie eines besseren belehrt. Auch hier findet der Leser eine klassische king’sche Erzählung vor.

► Jener Bus ist eine andere Welt
Die Geschichte über deren Idee King schon bei seinem Deutschlandbesuch sprach. Jetzt endlich als vollständiger Text. Und ziemlich typisch. Denn hier werden wir in eine Alltagssituation geworfen, die dann völlig aus dem Ruder läuft. Sehr prägnant und plötzlich. Auch hier stellt King die Frage nach Moral.

► Nachrufe
Wie kann man nur so eine ignorante und selbstgerechte Chefin sein? Er hätte die Gehaltserhöhung mehr als verdient. Wütend und enttäuscht macht Mike Anderson sich an das, was er am besten kann: Gehässige Nachrufe schreiben. Doch heute sind nicht die Toten, sondern seine Chefin das Opfer. Wenn er gewusst hätte, was das für Konsequenzen nach sich zieht, hätte er bestimmt die Finger davon gelassen. Neuer Ansatz für eine alte Idee. Die Geschichte hat seine Längen, doch die Charakterzeichnungen wirken hier am stärksten.

► Feuerwerksrausch
Der Kampf der Giganten an einem kleinen See irgendwo in Amerika. Zwei Familien, die sich am Unabhängigkeitstag gegenseitig mit ihrem Feuerwerk überbieten wollen. Jahr für Jahr aufs Neue. Und jedes Jahr lockt es immer mehr Besucher und Schaulustige an. Kings zweite eher humoristische Geschichte, die teilweise an Clive Barkers IM BERGLAND: DIE AGONIE DER STÄDTE erinnert.

► Sommerdonner
Ein Endzeitroman wie er auch aus der Feder Richard Mathesons entsprungen hätte sein können. Zumindest gab es gewisse Ähnlichkeiten. Ein Mann, eine Endzeit, ein Hund. Nur die Ursache war eine andere. Und es gab auch keine Vampire. Nur den sicheren Tod. Ein fast schon ruhiger Ausklang, der dem Buch ein würdiges Ende gibt.

Schwarz von TheFallingAlice und Rosa vom CoAutoren und Gastrezensenten Max (DAS IST MAGENTA!)


4/5